Begegnung mit Lilly

Begegnung mit Lilly

vor 7 Jahren und 330 Tagen

Sie stand in ihrem langen Kleid. Der hellblaue Stoff fiel bis auf ihre Füsse. Er verhüllte ihre flache Brust, betonte zugleich aber ihren Kampf gegen das körperliche Dasein. Die nackten Schultern waren weiss und knochig. Die Arme wurden durch fehlende Masse zu unendlich langen kantigen Stangen.

Jeder konnte sehen, dass sie nicht zu den durchschnittlichen Menschen zählte. Zu den Menschen, die sich mit den praktischen Dingen beschäftigen, die zu den allgemein üblichen praktischen Dingen eben zählte. Nicht jeder konnte oder wollte es wissen, ob sie es genauso wollte. Ob sie mit ihrer demonstrativ asketisch wirkenden Figur die anderen berühren wollte.

Ich sah sie. Sie irritierte mich. So wie sie da stand.

Scheinbar zart und zaghaft.

Ich sah sie zum ersten Mal und doch war sie mir vertraut.

Eine Anziehung strömte von ihr und eine Belustigung folgte, für die Meisten so leise, dass sie es nicht hörten.

Ich wollte ihre Stimme hören. Ich wollte hören, was sie anklagt.

Sie war sehr jung. Erst 30 Jahre. Ihr Gesicht war mädchenhaft und zeigte keinerlei Altersspuren. Ihre Haut war sehr weiss. Das hellblaue Kleid liess die Haut ausgewaschen wirken.

Ihre Stimme war zwar hell, doch nicht ganz so hell ich es erwartete.

Ich stellte mir vor, dass ihre Stimme wie Glass klingen sollte.

Ich erinnere mich nicht, ob sie zögernd oder fest war.

Wir sprachen Worte.

Es war aber mehr. Für mich. Ich war innerlich aufgewühlt.

Sie war sensibel. Natürlich.

 

Das sind wir alle. Die Gebrochenen und Stolzen, die Wieder-Aufgestandenen und Unnahbaren.

Meist ähneln sich sogar unsere Geschichten.

Die Bühne ist anders, das Datum verschoben.

Der Akt ist aber immer der Selbe. In seinem Ursprung.

Als sich ihre Arme zum Abschied um mich legten, waren Bilder von Gottesanbeterinnen in meinem Kopf.

Als ich meine Arme um sie legte, so fürchtete ich sie zu zerbrechen.

Auf dem Weg nach Hause sprach ich über mehr oder weniger wichtige oder belanglose Geschehnisse.

Ich plapperte.

Parallel in meinem Kopf wuchsen Vorstellungen in Bildern und Geschichten.

Was hat der Körper erfahren, dessen Seele ihn nicht will? Nicht mehr will, sollte es vielleicht heissen. Wahrscheinlich.

In den nächsten Stunden, über die Nacht, über den nächsten Tag bis jetzt beschäftige ich mich mit der Frage nach der Tat.

Ich las ihre Geschichte in Auszügen. Den Rest will ich nicht. Jetzt nicht.

Ich denke, das muss ich Stückchen-weise mit meiner Geschichte vermischen.

Und jetzt habe ich mich. Ich mich mit meiner Geschichte.

Die Kröte meiner Mädchentage.

Manchmal denke ich, dass ich dadurch mehr lebe, da andere Seelen ihre Körper bei noch Schlimmerem begleiteten ohne ihm zu helfen. Die ewige Schuld bleibt.

Etwa so wie unterlassene Hilfeleistung.

An der körperlosen Frau sehe ich die bewusste Verweigerung sich mit der Masse zu verschmelzen. Einher zugehen, mit dem Alltag der Vielen.

Ob sie jeden einzelnen Körper am Geruch erkennt?

Ob sie die Gerüche der Körper erträgt? Die Ausdünstungen, die durch alle Poren herauskriechen, als ob die feisten Seelen in ihm alles herauspressen um sich mehr Platz zu verschaffen.

Ich sehe Lillys Haut-benetzte Knochen und überlege, warum ihre Haut so eben ist.

Wie macht sie das?

Ist meine Haut doch so vernarbt.

Ich höre das Aufplatzen der Haut. Ich fühle dann eine Erleichterung, als ob ein Feuerwerk-Körper am Silvester-Himmel mit Funken etwas Befreiendes verkündet. Den Abschluss oder den Neubeginn. Einen Schritt. In meinem Kopf.

Die Begegnung mit Lilly ist, wie das Öffnen des verstaubten Kartons mit Bildern aus den alten Tagen.

Es sind die Bilder, die beim Herausholen über ein Leben erzählen, was das Eigene wie ein Fremdes beschreibt.

Warum ist es so bedeutend, zu den alten Geschehnissen zurück zu kehren?

Was bringt es jetzt noch?

Vermengt mit den Bildern meiner Erfahrung erscheinen mir ihre Erlebnisse um so viel unerträglicher als meine.

Seltsamer Weise bin ich verstörter, gelähmter und hasserfüllter.

Und so sehr ich mich um bewusste Gelassenheit bemühe, um so mehr wünsche ich , wir hätten uns nicht berührt.

Wir beide. Unsere Seelen.

Sehe ich doch noch Tage und Wochen später zwei Gebrochene, die durch die Anklage und Beweinen des Schicksal, sich im ewigen Wühlen in seinem Selbst zerstören.

Weil es so einfacher ist. Das passiert irgendwie ohne Mühe. Auto-Manisch.

Und doch ist diese Begegnung eine von diesen, die dazu zwingen über den eigenen Auftrag nachzudenken:

Über das, was zu erfüllen ist, bevor der Körper seine Seele entlässt.

Über das, warum das Leben zu leben ist und vor Allem über das wie.

 

K.C.